And I couldn’t help but wonder

Da steht jetzt eine riesige rote Zunge in der Innenstadt. Mindestens zwei Meter hoch, zwischen Cartier und Hermès. Auf der Zungenspitze glänzt ein silbernes Piercing. Das nennt sich Kunst. Zwei Frauen stehen davor, verziehen ihr Gesicht und fotografieren sich in der Reflexion der spiegelnden Kugel. Am Stephansplatz herrscht keine lähmende Schwere. Menschen sitzen in Schanigärten und trinken Eiskaffee mit Schirmchen. Die Influencerinnen in meinem Instagram-Feed posten nicht mehr Bananenbrot und Solidaritätsbekundungen, sondern Bilder aus Venedig, Kreta und irgendwo in der Nähe von Malmö. Der Newsletter in meinem Posteingang zeigt mir fein aufgereiht Flüge, die ich gerne buchen würde. Ich tue es nicht und das macht mich ein bisschen traurig. 
Es ist gefühlt ein Jahr und gleichzeitig nur eine Woche her, dass ich Sätze wie „Heute spielte bei uns im Hof jemand eins dieser Fenster-Konzerte mit der Trompete und ich stand dabei am Balkon und habe geweint.“ in meine Notizen tippte. Jetzt höre ich um 18 Uhr auf meinem Balkon höchstens andere weinen (das Baby aus dem Haus gegenüber), geklatscht wird wieder nur auf Tresen oder Arschbacken in zu vollen Bars. Partys in Bars, Partys in Kellern, Partys am Stadtrand, Partys im Wald. Nur die Clubs schauen durch die Finger und machen mit der anderen Hand obszöne Gesten. 

In unserem Hof gießt der Hausmeister Rosen. Meine Nachbarin gießt ihre Neurosen und sagt: „Aber wissen S‘ eh, mit dem Auto dürfen Sie nicht hereinfahren.“ Bei der Pizzeria ums Eck ist der Gastgarten bis zum letzten Platz besetzt, die Luft riecht nach flaumigem Teig, Oregano und Optimismus. Wir gehen in der Dunkelheit nach Hause, im leeren Durchgang steht ein junges Pärchen, das sich küsst. „Das wär so eine Szene für versteckte Kamera, wenn wir jetzt einfach zwei Meter neben ihnen stehen bleiben und auch schmusen würden.“ Ich lache laut. Das Paar unterbricht den Kuss und schaut uns an. 

Beim Sport dürfen wir wieder die Umkleiden benutzen. Ich gehe trotzdem in meiner verschwitzter Kleidung heim. Geduscht setze ich mich in einen Zug und fahre zum ersten Mal wieder in ein anderes Land zu meiner Familie. Knapp nach der Grenze kontrollieren Polizisten die Waggons, wir müssen unsere Ausweise nicht herzeigen. Am bayrischen See isst alles wie gewohnt: Pommes rot-weiß und Backfisch-Brötchen. Ich lese aus Pippi Langstrumpf vor und mir fällt auf, dass es zu wenige Sachensucher gibt und warum ruft eigentlich so selten jemand „Heute ist mein Glückstag!“? 

Über uns malen Lichterketten bunte Kreise in die Luft. Ich trinke hausgemachte Limonade. Bei jedem Schluck denke ich kurz, es wird gleich sehr sauer, aber dann wird es süß. Der Herr neben uns zieht seine Schultern hoch und sagt: „Da oben gießt jemand seine Pflanzen und gießt mich gleich mit!“, die Kellnerin lächelt verlegen. Ein paar Tropfen landen auch auf deinem Rücken. Die Schlange vor dem Eisladen ist mindestens zehn Meter lang, ich nehme wie immer Kokos und alles außer Lavendel und Veilchen und die anderen Sorten, die nach Seife schmecken. Die eben noch rosa Wölkchen verschmelzen zu einem blaugrauen Schleier. Hinter uns sagt jemand: „Eine Freundin aus Berlin war letztens mit Jasmin Wagner, ihr wisst schon, Blümchen, feiern!“ Ich habe Blümchen letztens im Fernsehen gesehen, irgendwie sah sie glücklich aus. Die Moderatorinnen skypen mit dem Cat Video Fest-Erfinder und fragen ihn, wie das gerade so ist mit Veranstaltungen in den USA. Wir trinken fertig gemischten Spritzer aus der Flasche und schauen mit 178 anderen Katzenvideos. Das nennt sich Kultur. In dem Lokal, in dem wir früher öfter waren, steht die Bar an einer anderen Stelle. Links und nicht geradeaus. Die vollgeschmierten und beklebten Wände in der Toilette sehen aus wie immer. 
Um 7 Uhr klingelt mich der Rauchfangkehrer aus dem Bett. Ich lasse den Fremden in die Wohnung und denke „Heute ist mein Glückstag!“. Es war aber doch nur Donnerstag.

Und ich konnte nicht anders, als mich zu fragen: Ist jetzt alles wieder gut?

Spoiler Alert: Nein.

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