Sei mal wieder richtig schlecht

Ich mache Sport. Regelmäßig. Manchmal sogar 3x die Woche. In einem Studio. Mit anderen. Und ich bezahle Geld dafür. 

Für mich liest sich das noch immer sehr absurd. Vor einigen Jahren hätte ich es für wahrscheinlicher gehalten, dass ich anfange, Bartagamen zu züchten. Oder dass ich in Grönland ein Marmeladen-Geschäft eröffne. Oder dass eine weltweite Pandemie ausbricht, die uns für Wochen zu Hause einsperrt. Well. Na ich glaube, du hast verstanden. Sport und ich waren nie besonders gute Freunde.

Hin und wieder sollte man jedoch unterm selbst geworfenen Konfettiregen „Überraschung!“ ins eigene Gesicht schreien. Also habe ich tatsächlich meine Arschbacken zusammengekniffen, mich für eine Schnupperstunde angemeldet und bin tapfer durch den ersten Bezirk gestapft, um in einem ziemlich modrig riechenden Keller direkt hinterm Stephansdom zu landen. Tja, und jetzt ist da diese anstrengende, schweißtreibende Sache in meinem Leben. Die Entscheidung damals traf ich, wie ich meine Entscheidungen öfter mal treffe: Irrational, so nach Gefühl. Ich habe mich verknallt und mir war in dem Moment egal, wie das jemals funktionieren soll zwischen uns zweien. Okay vielleicht war ich auch sehr naiv und hatte keine Vorstellung davon, dass es nicht nur furchtbar anstrengend wird und massig Muskelkraft und Flexibilität erfordert, sondern dass man sich dabei auch noch ganz großartig mit allen anderen im Kurs vergleichen kann. Welcome to Aerial Silk, der Luftakrobatik an zwei langen Tüchern.

Das ist kein „Mach Sport – es fühlt sich so toll an“-Text

Wie man an dieser Stelle schon vermutet, hing ich anfangs wie ein großer Wasserballon an den Tüchern und konnte mich keinen Zentimeter nach oben bewegen. Ich bin da nur so ein bisschen rumgeschwappt, immer kurz davor zu platzen. Neben mir sah ich meine ehemalige Turnlehrerin stehen, die schief grinste und Dinge sagte wie „Du hast dich damals am Seil nicht einmal richtig festhalten können… wie kommst du auf die lächerliche Idee, dass du 15 Jahre später mit 15 Kilo mehr hinaufklettern kannst?“ Ich weiß nicht mehr genau, wie ich mich nach den ersten physisch und psychisch kräftezehrenden Stunden überhaupt aufraffen konnte, ein weiteres Mal hinzugehen. Na gut, der Kurs über sechs Wochen war schon komplett bezahlt. Achja und da war noch diese Frau an meiner Seite, die mich glücklicherweise von der ersten Schnupperstunde an begleitete (viel Liebe & Dank an dieser Stelle ♥) und die ich die restlichen Wochen nicht alleine hinschicken wollte. Peer Pressure ist manchmal eben auch guter Pressure, wenn er dir nicht Zigaretten und Alko-Pops entgegenstreckt.

Und nein, das soll jetzt keiner dieser „Mach Sport – es fühlt sich so toll an“-Texte werden. Denn ganz ehrlich? Körperliche Betätigung tut zwar meistens gut, aber dieses erfüllende Glück, von dem die Bewegungsfreaks dauernd sprechen, stellt sich nun wirklich nicht immer ein. Gerade wenn man Ansprüche an sich hat. Denn obwohl uns viele Leute einreden wollen, dass man sich nach Sport ganz großartig fühle, stehen andere danach komplett fertig auf der Matte und fragen sich, warum sie sich das überhaupt antun. Also ich zumindest. Ab und zu. Auch wenn ich mich darüber freue, dass ich endlich etwas für mich gefunden habe, das mir nicht nur Muskelkater und blaue Flecken, sondern vor allem auch Spaß beschert, sind da dennoch diese Tage, an denen tief in mir drin ein Ringkampf ausgefochten wird, bei dem mich der ein oder andere Hieb unangenehm in der Magengrube trifft.

Die schlechten Tage

An schlechten Tagen habe ich schon nach zwanzig Minuten keine Kraft mehr und ärgere mich, dass ich die Figur nicht schaffe. An schlechten Tagen nervt es mich, dass die neben mir das locker hinkriegt, obwohl sie vielleicht Monate nach mir mit dem Silken angefangen hat. Dass sie jedoch seit vielen Jahren klettert, schon in der Schule Leichtathletik-Meisterin war oder eine Musical-Ausbildung mit hunderten Ballett-Stunden hinter sich hat, blende ich in dem Moment aus. An schlechten Tagen denke ich mir nach der Einheit, dass ich vielleicht doch keine Lust mehr darauf habe und es wieder hinschmeißen sollte. An schlechten Tagen will ich erst gar nicht hingehen, weil mich davor schon negative Gedanken plagen, dass ich die Figuren, die heute anstehen, unmöglich schaffen kann. An schlechten Tagen bin ich nach der Stunde ein wenig wütend, weil es mich ankotzt, dass ich mich selbst unter Druck setze und meine Selbstzweifel nicht ablegen kann.

Sorry, Abkürzung gesperrt

Hallo Frustration, komm und setz dich zu mir, lass uns reden. Zuerst dachte ich, dass es mir einfach schwerfällt, Anfängerin zu sein. Aber das ist Blödsinn, damit habe ich überhaupt kein Problem. Anfangen kann ich sogar echt gut. Ein neues Handarbeits-Hobby, das erste Mal Germstriezel backen, zum ersten Mal Siebdrucken, zum ersten Mal Bogenschießen, das erste Mal eine Ukulele in der Hand – allein in den letzten Monaten habe ich wiederholt etwas neu angefangen. Doch auch wenn ich in diesen Fällen zu Beginn vielleicht weit weg von „richtig gut“ bin, bin ich genauso weit weg von „richtig schlecht“. Weil ich mir eben normalerweise Aktivitäten aussuche, bei denen ich mich auf meine Fähigkeiten verlassen kann. Ich weiß davor schon, dass das ganz okay funktionieren wird – auch zu Beginn. 

Mit etwas anzufangen ist das eine, richtig schlecht darin zu sein, das andere. Und genau das ist das Ding: In etwas wieder einmal richtig schlecht zu sein. Und das nicht nur alleine zu Hause, sondern neben und mit anderen, die darin alles andere als richtig schlecht sind, obwohl auch sie zu den Anfängerinnen zählen. Dass man sich quälen muss, um irgendwann bei dem „passabel“ anzukommen. Und man nicht die Abkürzung über „eh schon ganz gut am Anfang“ gehen kann. Das Scheitern ist manchmal unangenehmer als die vielen blauen Flecken auf meinen Beinen. Trotzdem weiter zu machen, musste und muss ich immer noch lernen.

Meine Kompetenzen liegen ganz klar im kreativen Bereich. Körperliche Leistungen waren nie meine Stärke. Und manchmal tröste ich mich damit, dass es bestimmt vielen sehr sportlichen Personen genauso geht, aber eben umgekehrt. Dass sie Kreatives erst gar nicht anfangen, weil sie sich einbilden, dass sie das nicht können. Die Scheu davor haben, einen Pinsel in die Hand zu nehmen oder einen Text zu schreiben.

Die guten Tage

Achja und dann gibt’s da auch die guten Tage. An guten Tagen ist mir egal, ob die anderen neben mir Pirouetten drehen oder sich von Tuch zu Tuch schwingen. An guten Tagen konzentriere ich mich nur auf mich. Ich freue mich wie ein veganes Schnitzel, dass ich jetzt etwas beherrsche, das ich vor Kurzem noch nicht geschafft habe – auch wenn es die anderen im Kurs vielleicht schon seit Wochen rocken. An guten Tagen finde ich es gar nicht schlimm, dass ich eine Figur gerade nicht hinkriege, und probiere es einfach das nächste Mal noch einmal.  An guten Tagen vergleiche ich mich nur mit mir selbst. Und ich schaffe heute mehr als letzte Woche. Ich bin so viel stärker als vor einem Jahr. Ich meistere jetzt Techniken und Figuren, bei denen ich am Anfang dachte: NO WAY. Ich erkenne mich manchmal selbst nicht wieder – im positiven Sinne. Ich seiltanze regelmäßig über mich hinaus und bin ziemlich stolz auf mich und meinen Körper. Und das tut echt gut. 

Figuren Aerial Silk
Das bin ich, wie ich nicht mehr ganz so schlecht in Aerial Silk bin 😉

Die Frustration schleicht sich zwar immer noch ab und zu ein, aber ich versuche dann, ihr gleich wieder die Katzenklappe nach draußen zu zeigen. Gerade der Start nach dem Corona Lockdown war nicht einfach, weil in den Monaten so viel Kraft verloren ging. Aber hey, es wird schon wieder. Und in ein paar Wochen starte ich Level 4. Yay.

Hier könnte ein kitschiger Spruch über die Magie und das Verlassen der eigenen Komfortzone stehen. Ich erspar’s euch.




Wann hast du das letzte Mal etwas so schlecht gemacht, dass du es wiederholt hinschmeißen wolltest? Das dir aber dennoch so viel Freude bereitete, dass du es weiter durchgezogen hast?

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